Zeichnungen Grafit auf Papier, Format 70x100 cm, Copyright Thomas Autering
Die Zeichnungen von Thomas Autering entstehen mit Graphit in Stiftform. Graphit, ist einer von drei natürlichen Modifikationen des reinen Kohlenstoffs. Die beiden anderen sind Diamant und Fulleren. Graphit ist nicht entflammbar, ist geruchlos, nicht explosiv, ist toxikologisch unschädlich, ist ein her-vorragendes Schmiermittel, es schmilzt bei 3600 °C, es belastet die Umwelt nicht, ist unlösbar in Wasser, hat eine silbergraue bis schwarze Farbe. Unter sehr hohen Druck und Temperaturen von ca. 3000 °C wird aus Graphit künstlicher Diamant hergestellt. Es gibt in der Natur eine Menge an Kohlenstoffverbindungen, nicht zuletzt auch der Mensch, die aber im Gegensatz zu dem reinen Kohlenstoff empfindlicher sind für die Einwirkung der Zeit. So nicht Graphit. Es ist ein Material für die Ewigkeit und eignet sich außerdem hervorragend zum Zeichnen. Das Wort Graphit stammt vom griechischen Graphein, und das bedeutet einritzen oder einfach zeichnen. Die ältesten Bleistifte, aus dem Jahre 1665 wurden in der Grafschaft Cumberland in England hergestellt. Das Graphitlager Borrowdale förderte hochwertige Blöcke, die als zersägte Stäbchen in Holz gefasst wurden. Der Cumberland-Bleistift gehörte lange Zeit zu den besten der Welt. Die Möglichkeit mit diesem Zeichenmaterial kontinuierliche Linien zu ziehen, ohne wie z.B. bei Pinsel und Farbe immer neues Farbmaterial aufnehmen zu müssen, nutzt Autering um dynamisch, sehr gestisch betont zu arbeiten.
Ausgangspunkt einer Zeichnung ist immer ein Vorhandenes, ein Objekt oder Model. Nach den ersten von diesem vorgegeben Linien folgt eine gewisse Distanzierung, ein Loslösen vom Objekt. Die Zeichnung verselbständigt sich ohne das die Herkunft verloren geht. Nun folgt der Zeichner Autering dem Spiel der Linien. Das Verworrene, im Dickicht des lebendigen Schwarz, und die anfänglich weiße Papierfläche lassen eine neue Räumlichkeiten entstehen. Thomas Autering setzt die zeichnerische Wirkung von Licht und Schatten ein, aber nicht unter dem Diktat des klassischen Illusionismus, viel-mehr zur Hervorbringen von Räumlichkeiten, die einem Illusionismus entgegen zu wirken scheinen. Große Bedeutung erlangen die Partien im Werk, die in der Aufeinanderschichtung des Graphits die dunkelsten Flächen bilden, dadurch, dass diese die höchste Lebendigkeit zeigen. Vor Allem auch deswegen weil hier das Graphit, früher Glanzblei genannt, glitzert, spiegelt, ihren ursprünglich schwarzen Liniencharakter transformiert in eine verdichtete Fläche. Die schwärzesten Partien werden nicht nur zum Kontrapunkt der unberührten weißen Papierflächen, sie bringen auch reliefartige Strukturen hervor, die die Zweidimensionalität der Zeichnung in Frage zu stellen scheint. Es ist hier auch Sprache von einem von einem ganz eigenen Duktus. Anstatt, dass die Graphitlinien auf weißes Papier treffen, finden sie hier einen glatten Graphituntergrund und zeigen einen ganz anderen Charakter.
Die Kombination dieser Plastizität und die eigene Art von Thomas Auterings Gebrauch des Illusionismus bringt eine Zeichnung zustande, die auf den ersten Blick zwischen zwei Welten pendelt und in einer unbekannten Zwischenwelt stehen geblieben ist. Der ursprüngliche Ausgangspunkt des Gegenstandes wurde verlassen, aber nicht aufgegeben, eine zweite Distanzierung von der Zeichenfläche, durch Verdichtung und Aufeinanderschichtung, bringt das Bild in einen halbdimensionalen Zustand.
Die gesamte Zeichnung spricht zwar deutlich von ihrer Herkunft aber blickt dem Betrachter rätselhaft voraus in einer Möglichkeitsgestalt, die erst in den Augen des Zuschauers ihre Form sucht und findet; sie sind Projektionsflächen für das Bedürfnis individueller Empfindung und dem unbewussten Drang des Betrachters alles zu identifizieren und werden so zum Dialog zwischen der Ahnung des Objekt-behafteten und der Vorahnung von noch Umsetzbarem. Thomas Autering läuft damit auf einem schmalen Grad zwischen Zeichnung und Entwurfsskizze. Er hält intuitiv eine ausgesprochene, ganz eigene Balance, bekundet deutlich seine Faszination für die Lebendigkeit des von ihm genutzten Materials und fordert uns auf unsere Wahrnehmung auf Möglichkeitsformen einzustellen. „Zwei Linien nebeneinander, sind im Blick des Betrachters ein Stock, ein Stiel, Eisenbahnschienen, zwei Antennen, oder ein Weg. Darüber entscheidet die Interpretation des Betrachters, aber es bleiben vorerst zwei Linien auf Papier“ sagt Autering.
Was möglich sein könnte wird in der Zeichnung gezeigt. Die Geschwindigkeit, die Linien vermitteln, mag ein deutlicher Hinweis auch auf die Vergänglichkeit sein. Der mögliche Verfall eines Objektstatus, der in seinem Entwurfsmodus instabil ist. Ein Objekt auf dem Sprung in seinen Produktmodus und umgekehrt.
Objekt und Produkt sind in ihrem Endergebnis zwar gleich, ihr Anfang jedoch wird durch die unterschiedliche Bezeichnung anders gedeutet. Die Zeichnungen Thomas Auterings bringen diese beiden mit ihrem vergänglichen Charakter gleichwertig ins Bild. Haftet nicht die Kurzlebigkeit an Beiden? Und ist auch nicht dass, was wir lieber nicht als Produkt bezeichnen, nämlich Natur, nicht oft genug ein Produkt unserer Vorstellung? Die Flüchtigkeit des Wahrnehmungsmoments, die unweigerlich mit der dynamischen Zeichenweise verknüpft ist, scheint Thomas Autering entgegen wirken zu wollen. Wie ein Attraktor wirken die Schwarzpartien. Sie binden die Linien. Die schlaufenartigen Ränder zeigen die Unmöglichkeit der Linien der Masse der Verdichtung zu entkommen, sie kehren wieder in sich wie die Spuren der Elementarteilchen, die von unbekannten Kräften in einem Zentrum zusammengehalten werden.
Thomas Autering zeigt zwei der vielleicht wichtigsten Aspekte des Daseins: Raum und Zeit. Die Masse des Schwarz erzeugt auf mehrfache Weise Räumlichkeit. Die Dynamik der Linienführung spricht über Zeit, und zwar über kleinste Zeiteinheiten. Schaut man schnell, das heißt hier immer: zeichnet man schnell, dann fängt man das Gesehene in seiner zeitlichen Gestalt, in seinem Moment. Es geht um den Moment des Erkennens, um das Ereignis des Erkennens. Und das ereignet sich so schnell, das man durch die Arbeit von Thomas Autering aufgerufen wird ganz intensiv unsere Umwelt zu betrachten, ihre jetzige und ihre mögliche Form zu erfassen.
Zum Schluss ein Zitat von Robert Musil, der über Möglichkeitssinn spricht: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er; nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das was nicht ist.“